Micha Brendel. »eine Schicht tiefer«
Wunden und Wunder in Körpern
8. Dezember 2006 verlängert bis zum 4. März 2007
gleichzeitig im
Stadtmuseum Jena
Der große Wunsch von Ernst Haeckel war es, eine Stätte zu schaffen, die der Darstellung von Phylogenese (Stammesgeschichte) und Evolutionstheorie gewidmet ist. Tatsächlich war das 1908 von Ernst Haeckel eröffnete Phyletische Museum mehr als ein Ort der Aufklärung über die zentrale Theorie der Biologie: In der ursprünglichen Konzeption von Haeckel war eine außergewöhnliche Mischung von extremer Selbstdarstellung und Aufklärung bis hin zur darwinistischen Propaganda. Von Anbeginn sollte das Phyletische Museum auch die Begegnung von Kunst und Natur herbeiführen, wenngleich Haeckel wohl vornehmlich an sein persönliches Verständnis von Kunst dachte.
Micha Brendels künstlerische Arbeiten im Phyletischen Museum auszustellen, wird manchen Besucher vielleicht irritieren oder sogar schockieren. Die unerwartete Begegnung mit grenzständiger Kunst an diesem Ort kann Unverständnis oder Unwillen hervorrufen. Das Ziel des Museums mit dieser Ausstellung ist es, dem Besucher einen erweiterten Blick auch auf zoologische Objekte zu ermöglichen – nicht aber, ihn zu provozieren.
Im Phyletischen Museum versuchen wir einen möglichst aktuellen Stand der Evolutionsbiologie darzustellen, beispielsweise: Was wissen wir heute über die letzten sieben Millionen Jahre der Menschwerdung? Im vergangenen Jahr hat die renommierte wissenschaftliche Zeitschrift Science die Evolution erneut auf den ersten Platz der Rangliste der wichtigsten Themen gesetzt. Die Evolution ist eine fundamentale Grundlage der Biologie, und die Evolutionstheorie ist auch in den verschiedensten anderen Wissenschaften fest verankert. Der Kern der Evolutionstheorie ist seit Darwin die Selektion zufallsgenerierter Veränderung. Das Phyletische Museum zeigt die fortschreitende Entschlüsselung des Lebens und der Rätsel der Biologie aus evolutionsbiologischer Sicht.
Micha Brendel macht das Gegenteil. Er enigmatisiert Objekte, deren Entschlüsselung danach eigentlich nicht mehr möglich ist. Er schafft eine Welt eigener Begriffe – aber sind diese für den Besucher nicht ebenso rätselhaft wie viele biologische Fachbegriffe (z.B. Gen), an die sich alle durch häufige Wiederholung gewöhnt haben? Bei Micha Brendel wird aus der Placenta discoidalis von Homo sapiens wieder der rätselhafte »Mutterkuchen«, dessen Funktion man sehr lange nicht verstanden hat, obwohl er milliardenmal in der Geschichte des Menschen »zur Welt kam« – und wie viele Menschen kennen Bau und Funktion der Placenta?
Der Zugang zum Objekt geht nur über den Begriff, ohne begriffliche Fassung entweicht das Objekt. Die Biologie ist in hohem Maße eine Erfahrungswissenschaft, d.h. das Wissen entsteht aus einem Zusammenspiel von Beobachtung (Experiment) und bestehendem Wissen. Wahrnehmung ist Gestaltwahrnehmung und damit die Verknüpfung von Gestalt mit einem Begriff. Der Begriff ist dasjenige, als was wir das Wahrgenommene wahrnehmen. Je genauer die Begriffe sind, um so genauer ist die Wahrnehmung. Es ist beispielsweise klug beim Pilze sammeln mehr zu wissen, als »das ist ein Pilz«.
Ohne Begriffe können wir keine einzige Erfahrung aussprechen; Begriffe sind das Tor zu jeder Art von Kommunikation und damit auch zur Wissenschaft. Indem Micha Brendel vertraute und fremde Objekte gleichermaßen fremd macht und diese dann noch eigenartig benennt, erhellt er auf eindringliche Weise unseren begrifflichen Zugang zu der üblichen Wirklichkeit.
Eine zentrale Kategorie der Biologie ist die Art. Sie heißt in der Fachsprache Spezies, was im Lateinischen Aussehen – Gestalt – Begriff – Idee bedeutet. In dem Wort Spezies ist also alles versammelt. Die Eigen-Art, die man als Gestalt wahrnimmt, wenn man über den richtigen Begriff Zugang erhält, um dann zur Idee vorzudringen. Zu welcher Spezies gehören nun aber die Objekte von Micha Brendel?
Das Objekt »Wortschatz« zeigt uns einen doppelten Zeichensatz, den eigentlich nur zwei Gruppen lesen können: Blinde die Braille-Schrift und Morphologen die Knochen. Die Lesbarkeit der Zeichen ist also abhängig vom Vorwissen. Die Braille-Druckplatten sind für »Unwissende« rätselhafte Platten mit Lochmuster, die Knochen halt Knochen. Micha Brendel zeigt uns, wie unsere Unwissenheit auch zur Abkehr von Objekten führt – ohne den Versuch zu unternehmen, diese zu ergründen.
Die Placenta-Objekte verfremdem ein Organ, dem jeder Mensch seine Existenz verdankt. Eine menschliche Placenta ist in vielen anatomischen und naturhistorischen Museen zu sehen, ohne dass man ihr allzuviel Beachtung schenkt. Dabei gab es in Deutschland eine Gesichtscreme mit dem schönen Namen »Placentubex« – und die enthielt, was der Namen schon sagte: Placenta. Da die Nachgeburten in manchen gynäkologischen Krankenhausabteilungen nicht getrennt von Frühgeburten und abgetriebene Föten gesammelt wurden, landete alles zusammen in der Gesichtscreme.
Werbeslogans für die Creme waren »Placentubex verjüngt und strafft die Haut« (1959), »Den Zauber der Jugend erhalten« (1961), »Damit Ihre Haut länger jung aussieht« (1980), und »Denn heute bleibt man länger jung« (2003).
Man könnte auch fragen, warum regte sich kein Mensch auf über Marika Rökk mit Placentubex im Gesicht, sondern über Brendels »Placenten«?